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Pressemitteilung P 154/2012 / AZ: 200.00 / Gemeinschaftsschule: Land vergibt große Chance zur Modernisierung des Schulsystems - Städtetag rügt überhastete Einführung und Taschenspielertrick des Landes bei der Finanzierung (30.03.2012)

30.03.2012 - Az: 200.00 - P 154/2012 Telefon: 0711 22921-13 - E-Mail: norbert.brugger@staedtetag-bw.de
 
 
Gemeinschaftsschule: Land vergibt große Chance zur Modernisierung des Schulsystems
Städtetag rügt überhastete Gesetzgebung und Taschenspielertrick bei der Finanzierung
 
 
Stuttgart. Der Städtetag Baden-Württemberg hat in einer heutigen Landtagsanhörung seine Kritik an der Art und Weise der Gemeinschaftsschuleinführung erneuert. Leider habe der Ministerrat die meisten Änderungsvorschläge des Verbands zum Gemeinschaftsschulgesetzentwurf in den Wind geschlagen.
 
Geschäftsführendes Vorstandsmit­glied OB a. D. Prof. Stefan Gläser stellt dazu fest: „Jeder, der sich mit Schule befasst, erkennt die Umbruchsituation und die extreme Schräglage unseres Schulsystems 1 . Auf­grund der Abschaffung verbindlicher Grundschul­empfeh­lungen bluten die ohnedies schon entleerten Haupt- und Werkrealschulen weiter aus, während viele Real­schu­len und Gymnasien zugleich fast aus den Nähten platzen. Anstatt diesen Schularten ihre Pers­pektiven aufzuzeigen, konzentriert sich die Landes­regierung auf die überhastete und deshalb unaus­gegorene gesetzliche Einführung der Gemeinschafts­schule – und führt sie damit von Beginn an ins Abseits.“
 
Dabei könnte die Gemeinschaftsschule nach Städtetagsauffassung zum Schlüssel für die unabdingbare Überführung des jetzigen fragilen mehrgliedrigen Schulsystems in ein stabiles zweigliedriges Schulsystem mit einer starken zweiten Säule neben dem Gymnasium werden 2 . Der Städtetag begrüße daher grund­sätzlich die Einführung dieser neuen Schulart und stehe dem Land dabei konstruktiv zur Seite. Für das Gelingen dieser Einführung bedürfe es aber einer gründlichen Vorbereitung. Gemein­schaftsschulkonzepte seien zu erproben und entwickeln, die Finanzierung der Schulen fair zu vereinbaren, Lehrkräfte für das gemeinsame Lernen fortzubilden und Schulgebäude dafür herzurichten. Nur dadurch lasse sich jenes solide Fundament für die neue Schulart schaffen, welches sie benötige, um bei den Eltern von Kindern mit Realschul- und Gymnasialempfeh­lung breites Vertrauen zu gewinnen. Das probate Mittel hierfür seien Schulversuche in den Starterschulen, als Basis für eine spätere Gesetzgebung.
 
Da diese Grundlage fehle, konzentriere sich das Interesse an der Gemeinschafts­schule fast ausschließlich auf Werkrealschulen, wie die 40 Starterschulen verdeutlichten. Die Werkrealschulen hätten im Gegensatz zu den Realschulen und Gymnasien nichts mehr zu verlieren. Durch die Koalitionsverein­barung von GRÜNEN und SPD sei ihnen bescheinigt worden, dass ihr Konzept keine Zukunft habe.
 
„Die Gemeinschaftsschule ist in Baden-Württemberg eine große Unbekannte mit vielen Besonderheiten wie dem generellen Lernen in leistungsheterogenen Lerngruppen und dem gänzlichen Verzicht auf Nichtversetzung und Klassenwiederholung. Deshalb ist sie kein Selbstläufer, sondern braucht Zeit, um sich zu etablieren. Eltern schicken ihre Kinder im Zweifel nicht in Schulexperimente, sondern wählen eine „sichere Schul­bank“ für sie aus“, betont Dezernent Norbert Brugger.
 
 
 
Kritik übt der Verband deshalb auch am starren pädagogischen Korsett des Gemeinschaftsschul­gesetz­entwurfs. „Anstatt den Realschulen und Gymnasien Brücken zur Gemeinschaftsschule zu bauen, werden Hürden errichtet. Viele Realschulen mit Halbtagsbetrieb oder offener Ganztagsschule können sich beispielsweise nicht darauf einlassen, gegen den Elternwillen sofort gebundene Ganztagsschule zu werden, wie das bei der Gemeinschaftsschule zwingend verlangt wird. Und warum können sich zwei­zügige öffentliche Werkrealschulen nicht – als ersten Schritt zur Gemeinschaftsschule – zunächst zu zweizügigen Verbundschulen mit je einem Werkrealschul- und Realschulzug weiterentwickeln, wiewohl das Land privaten Werkrealschulen diesen Weg ebnet? 3 Viele Wege müssen zur Gemeinschaftsschule führen können. Und dieser hätte den besonderen Charme, Schule von unten wachsen zu lassen, genauso wie es die Landesregierung propagiert“, konstatiert Gläser.
 
Baden-Württemberg solle sich das ausgereifte pädagogische Konzept der Sekundarschule in Nordrhein-Westfalen4 zu Eigen machen. Dieses Konzept überlasse es den Schulen und ihren Trägern, nach der Orientier­ungsstufe in den Klassen 5 und 6 über die Intensität des gemeinsamen Lernens zu entscheiden. „Mit dieser Flexibilität könnten die Schulen und Schulträger örtliche Besonder­heiten bei ihrer Weiterent­wick­lung zu Gemein­schafts­schulen berücksichtigen. Auch Verbundschulen fänden unter ihrem Dach Platz, ebenso die Gesamtschulen. So ist ein Übergang in Stufen zur Gemeinschaftsschule möglich und kommt dadurch eine für alle akzeptable Bewegung in die gewünschte Richtung in Gang. Der pädago­gi­sche Dampfhammer einer sofortigen Zwangskomplettumstellung bleibt hingegen eingepackt“, so Brugger.
 
Ein Trauerspiel sei der Umgang im Entwurf mit den Kommunalfinanzen. Mit dem lapidaren Hinweis, die kommunalen Kosten für Gemeinschaftsschulen seien nicht konnexitätsrelevant (also vom Land den Kommunen nicht gemäß Landesverfassung zu erstatten) werde auf jegliche Angaben hierzu verzichtet. Das sei ein Affront gegenüber den Kommunen als wichtigsten Bildungspartnern des Landes.
 
Das Land habe nach Ankündigung der Gemeinschaftsschule ein Dreivierteljahr benötigt, bis es sich zum Thema Kosten endlich mit den Kommunalen Landesverbänden zusammengesetzt habe. Dank des Wohlwollens der Verbände sei es binnen weniger Wochen gelungen, eine Übergangslösung für die Starterschulen zu vereinbaren. Diese Verein­barung mache den Zusatzbedarf der Gemeinschaftsschule gegenüber anderen Schularten deutlich. Er liege alleine bei den Räumlichkeiten um 30 Prozent über dem Wert anderer Schulen. Auch bei den laufenden Kosten sei der Höchstwert zu veranschlagen.

Getoppt werde dieses Trauerspiel leider noch durch den verwegenen Versuch, das Land aus seiner Finanzverantwortung für die Kommunen zu nehmen. Erst ziehe das Kultusministerium mit einem gewaltigen Aufwand über das Land, um die Gemeinschaftsschule als „die Schule der Zukunft zu preisen", nun stelle das Land im Entwurf fest, dass die Einrichtung dieser Schule völlig freiwillig und daher ggf. alleine auf Kosten der Städte und Gemeinden erfolge. Dabei verpflichte die Landesverfassung doch das Land, für annähernd gleiche Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen in allen Regionen zu sorgen.
 
Ein Offenbarungseid sei der juristische Kniff, mit dem dies unterlegt werde. Das Schulrecht verlange für die Einrichtung neuer Schulen die gemeinsame Feststellung des Landes und der jeweiligen Kommune, dass ein „öffentliches Bedürfnis“ hierfür vorliege. § 30 Abs. 2 SchG sehe ferner vor, dass das Land ein derartiges öffentliches Bedürfnis notfalls auch gegen die anders lautende Auffassung einer Kommune feststellen müsse. Diese Bestimmung solle aber just für Gemeinschaftsschulen ausdrücklich nicht gelten. Das werde mit unbedingter Freiwilligkeit einer Schuleinrichtung begründet. Letztlich stecke aber – so die Städtetags­analyse – der Versuch dahinter, finanzielle Verpflichtungen des Landes zu vermeiden.
 
Einerseits die Notwendigkeit von Gemeinschaftsschulen zu propagieren und ein öffentliches Bedürfnis hierfür in jedem Einzelfall per Genehmigung zu bestätigen, sich andererseits aber juristisch der Finanz­verantwortung entziehen. Für Gläser ist das ein klares Foul des Landes: „Das erinnert an den Trick
mit der Kugel und den drei Hütchen. Egal welches Hütchen die Kommunen lupfen - es steckt nie eine Kugel darunter. Das Land beherrscht dieses Spiel. Ob es damit durchkommt, werden hoffentlich nicht Gerichte zu klären haben. Ich setze auf die Einsicht der Landesverantwortlichen.“
 
 
 
Nachfolgende Positionen der Städtetagsstellungnahme vom 03.02.2012 sind im neuen Gesetzentwurf nicht berücksichtigt.
 
1.   Die Gemeinschaftsschule vereint unter ihrem Dach die Bildungsstandards der Hauptschule, Werkrealschule, Realschule und des Gymnasiums sowie der Sonderschule (Inklusion) und ggf. der Grundschule. Sie wirkt sich somit auf diese Schulen in großem Maße aus. Der Gemeinschafts­schuleinführung muss deshalb eine Perspektivplanung für alle Schularten zugrunde liegen.

2.   In der Gemeinschaftsschule soll eine völlig andere Form des Lernens und Unterrichtens praktiziert werden als in den anderen Schularten. Bevor gesetzliche Festlegungen erfolgen, sind daher die Rahmenbedingungen dieser Schulen zu klären und Erfahrungen mit dem Betrieb der ersten Gemeinschaftsschulen zu sammeln.

3.   Sämtliche kommunalen Kostenfragen sind konnexitätskonform zu klären, bevor gesetzliche Festlegungen zur Gemeinschaftsschule erfolgen.

4.   Die Gemeinschaftsschuleinführung muss auch über die Zwischenstufe einer aus Werkreal­schule und Realschule bestehenden Verbundschule geebnet werden. Verbundschulen müssen wie Gemeinschaftsschulen zweizügig geführt werden können (Gleichbehandlung).

5.   Zur Mindestgröße von Gemeinschaftsschulen muss es klare Festlegungen geben.

6.   Das Land muss die Verantwortung für den Ganztagsbetrieb der Gemeinschaftsschule übernehmen, einschließlich Mittagessensaufsicht an diesen Schulen. Der angekündigten gesetzlichen Verankerung der Ganztagsschule im Schulgesetz ist insoweit vorzugreifen.

7.  In einer Übergangsphase muss bei Gemeinschaftsschulen auch in Sekundarstufe I auf den gebundenen Ganztagsbetrieb verzichtet werden können, wenn Schule und Schulträger dies übereinstimmend wollen.
 
8.   Gemeinschaftsschulen haben keine Schulbezirke. Soweit Grundschulen in Gemeinschafts­schulen integriert werden, muss den Städten die Schulbezirksbildung für diesen Primarbereich allerdings in gleicher Weise möglich sein wie für eigenständige Grundschulen.

 

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